Urteil im Prozess gegen Jan R. vor dem Amtsgericht


 


Amtsgericht Hamburg-Harburg

Urteil

Im Namen des Volkes

In der Strafsache gegen

 [...]

hat das Amtsgericht Hamburg-Harburg, Abteilung 619

in der Sitzung vom 03.11.2000, an welcher teilgenommen haben:

1. Richter am Amtsgericht Panzer

als Vorsitzender

2. Staatsanwalt Winter

als Beamter der Staatsanwaltschaft

3. D. Beutner und J. Eichler

als Verteidiger

4. Justizhauptsekretärin Wendt

als Urkundsbeamter der Geschäftsstelle

für Recht erkannt:

1/5 De


Der Angeklagte Jan R. wird

f r e i g e s p r o c h e n .

Die Staatskasse trägt die Verfahrenskosten und die notwendigen Auslagen des Betroffenen.

G r ü n d e :

Der Angeklagte Jan R. ist am ... geboren.

Er studiert zur Zeit an der Technischen Universität Harburg Ingenieurwis­senschaften (Mechanik und Elektronik) im 5. Semester.

Der Angeklagte ist unbestraft.

Mit der Anklageschrift vom 25.1.2000 hatte die Staatsanwaltschaft beim Landgericht Hamburg dem Angeklagten vorgeworfen, unter dem 1.3.1999 als Zivildienstleistender (Dienstzeit vom 1.3.1999 bis zum 31.3.2000) den Zivildienst bei seiner Einsatzstelle, dem Altenheim Am Schäferberg in 24576 Bad Bramstedt, nicht aufgenommen zu haben, weil er sich seiner Verpflichtung zum Zivildienst dauernd entziehen wollte (Vergehen der Zivildienstflucht nach § 53 ZDG).

Der Angeklagte hat in der Hauptverhandlung am 3. November 2000 einge­räumt, seinen Dienst bei seiner Einsatzstelle nicht angetreten zu haben. Genauso wie er den Kriegsdienst verweigert habe (vgl. die Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer des Bundesamtes für den Zivildienst vom 17.11.1997, Bl. 43 der Beiakte), müsse er unter Berufung auf sein Gewis­sen auch den zivilen Ersatzdienst ablehnen, da der Zivildienst den Ersatz für einen Dienst darstelle, den er ebenfalls aus Gewissensgründen verweigert habe.

Für ihn gelte das Tötungsverbot absolut, denn die Moral sei nicht teilbar. Es sei verboten, im Frieden einen Menschen vorsätzlich zu töten, so könne es nicht in Kriegszeiten auf Grund eines staatlichen Befehls erlaubt sein, andere Menschen umzubringen. Genauso wenig wie im privaten Bereich Gewalt ein geeignetes Mittel sei private Konflikte und Probleme zu lösen, seien auch im zwischenstaatlichen Bereich auftretende Konflikte nicht


durch militärische Gewaltanwendung lösbar. Daran ändere sich auch nichts, dass die Kriege regelmäßig als gerechtfertigte Verteidigungskriege umdefiniert würden. Das sei nichts als eine verschleiernde Propaganda, wie man an den Kriegen z.B. der Vereinigten Staaten Kuba (Schweinebucht), Vietnam, Nicaragua oder in jüngster Zeit auf dem Balkan sehen könne. Dabei finde er es als besondere Verschleierung, dass gerade der Krieg auf dem Balkan unter Berufung auf die Verteidigung der Menschenrechte unter Ausschluß der Vereinten Nationen geführt worden seien und die völkerrechtswidrigen Menschenrechtsverletzungen durch das Bombardement der Städte im ehemaligen Jugoslawien zynisch als „Kollateralschäden“, also notwendige Begleitschäden, definiert worden seien.

An diesem militärischen System, das junge Männer dazu ausbilde, wie man einen anderen Menschen möglichst effektiv, sogar unter Einsatz von völkerrechtswidrigen Massenvernichtungswaffen, umbringen könne, habe er nicht mitwirken können. Er habe deswegen den Kriegsdienst verweigert und diese auf seinem Gewissen beruhende Argumentation sei auch als berechtigter Grund für die Kriegsdienstverweigerung anerkannt worden.

Zunächst habe er den zivilen Ersatzdienst, der aufgrund seiner Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer ja die notwendige Folge gewesen sei, als humanitären und sozialen Einsatz gesehen, worauf er sich sogar gefreut habe. Er habe ohnehin überlegt, ob er nicht nach seinem Abitur Medizin studieren werde und sich deswegen vorgestellt, seinen zivilen Ersatzdienst bei der Johanniter Unfallhilfe oder einem ähnlichen Rettungsdienst abzuleisten.

Bei der näheren Beschäftigung mit dem Charakter des zivilen Ersatzdenstes seien ihm dann aber immer größere Bedenken gekommen. Ihm sei in der Diskussion mit Freunden, beim Lesen einschlägiger Literatur immer klarer geworden, dass der zivile Ersatzdienst im Grunde nichts anderes sei, als ein verkappter Militärdienst. Nach Beendigung seiner Schule habe er freiwillig in verschiedenen Krankenhäusern gearbeitet. Dort sei er immer wieder mit militärischen Grundbegriffen und Maßnahmen militärischen Charakters konfrontiert worden. So sei er angelernt worden, wie man radioaktiv kontaminierte Patienten behandele, er habe nicht nur Unterricht im ABC-Schutz erhalten, sondern sei auch in den Grundzügen des Kriegsvölkerrechts unterwiesen worden, z.B. der Haager-Landkriegsordnung oder der Genfer Konventionen. Er habe gemerkt, dass der zivile Ersatzdienst, weit mehr als öffentlich zugegeben, militärisch verplant sei, nämlich  ein integraler Bestandteil der umfassenden militärischen Planung darstelle. Der Zivildienst bedeute gerade nicht, wie immer propagiert, einen Friedensdienst, vielmehr seien Zivildienstleistende nichts anderes als zivil gekleidete Soldaten. Bei der näheren Beschäftigung mit diesem Thema habe er in zahlreichen Publikationen die enge Verzahnung zwischen zivilen Ersatzdienst und Kriegsdienst feststellen können. In welcher Weise der Zivildienst der militärischen Gesamtkonzeption zugeordnet sei, ergebe sich eindrucksvoll z.B. aus dem Weiß-Buch zur zivilen Verteidigung der Bundesrepublik Deutschland, das das Bundesinnenministerium 1972 herausgegeben habe. Dort werde unverholen dargestellt, wie der Zivildienst als Hilfsorganisation zur Erfüllung militärischer Aufgaben eingeplant sei. Das ergebe sich eindeutig auch aus der Vorschrift des § 79 ZDG, wonach im Verteidigungsfall der zivildienstleistende Wehrpflichtige zum unbefristeten Zivildienst herangezogen werden könne, um innerhalb der Zivilverteidigung Kriegsdienst zu leisten.

Aus den selben Gründen sei die in § 15a des Zivildienstgesetzes gebotene Alternative, nämlich die Einberufung zum Zivildienst dadurch abzuwenden, dass er freiwillig in einem Krankenhaus arbeite, nicht in Betracht gekommen. Diese Möglichkeit sei für ihn keine echte pazifistische Alternative, sondern lediglich ein Ersatz-Ersatzdienst. Auch hier ergebe sich aus der Vorschrift des § 79 ZDG, dass auch dieser Ersatz-Ersatzdienst Bestandteil der militärischen Planung im Verteidigungsfall sei.

Wenn man Soldaten als potentielle Mörder bezeichne, so sei für ihn der Zivildienstleistende ein potentieller Mordgehilfe. So lange es keine wirkliche Alternative zum Militärdienst in seiner Ausgestaltung als angeblicher Zivildienst oder Ersatzdienst gebe, nämlich einen wahrhaftigen Friedensdienst, müsse er sich diesen Verpflichtungen verweigern.

Nach diesen Feststellungen hat der Angeklagte den Tatbestand der Zivildienstflucht nach § 53 ZDG erfüllt.

Rechtfertigungsgründe liegen nicht vor, insbesondere gibt es kein Grundrecht auf Verweigerung des zivilen Ersatzdienstes aus Gewissensgründen, wie das Bundsverfassungsgericht bindend festgestellt hat (vgl. z.B. E 23, 127 ff.). Nach diser Entscheidung ist in Artikel 4 Abs. 3 GG abschließend geregelt, dass das Grundrecht der Gewissensfreiheit lediglich zur Verweigerung des Kriegsdienstes mit der Waffe, nicht aber auch zur Verweigerung des zivilen Ersatzdienstes berechtigte.

Der Angeklagte hat jedoch nicht schuldhaft gehandelt. Ihm steht ein übergesetzlicher Schuldausschließungsgrund zur Seite, der seine Grundlage in den Artikeln 1 und 4 Abs. 1 des Grundgesetzes, nämlich der unbedingten Achtung der Menschenwürde und der Gewissensfreiheit hat.

Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (E 23, 127,(133)), dass es ein Grundrecht auf die Verweigerung des zivilen Ersatzdienstes nicht gebe, insbesondere die neuerliche Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes vom 9. März 2000 (NJW 2000, Seite 3269 f.), wonach die Bestrafung eines Zivildienstverweigerers mit Artikel 4 Abs. 1 des Grundgesetzes vereinbar sei, steht dem hier festgestellten Vorliegen eines übergesetzlichen Schuldausschließungsgrundes aufgrund der allgemeinen Prinzipien des Strafgesetzbuches nicht entgegen. Denn das Bundesverfassungsgericht hat mit den genannten Entscheidungen lediglich festgestellt, dass ein Gericht, welches einen Totalverweigerer zu Strafe verurteilt, damit nicht gegen das in Artikel 4 Abs. 1 GG normierte Grundrecht der Gewissensfreiheit verstoße. Den Umkehrschluss – ein Totalverweigerer müsse daher jedenfalls zu Strafe verurteilt werden – hat das Bundesverfassungsgericht jedoch nicht getroffen. Es ist auch nicht sonst aus den Entscheidungsgründen zu entnehmen, dass das Bundesverfassungsgericht mit seiner Rechtsprechung die allgemeinen strafrechtlichen Grundsätze zur Schuldfeststellung eines Gewissenstäters bindend im Sinne einer Verurteilung festlegen wollte. Dem Angeklagten war die gesetzliche vorgeschriebene Erfüllung seiner Zivildienstpflicht nicht zumutbar, denn mit Erfüllung seiner Pflicht zum zivilen Ersatzdienst hätte er gegen sein Gewissen verstoßen müssen.

Der Angeklagte hat es dem Gericht allerdings nicht leicht gemacht, dass das Gericht ohne irgend einen Zweifel zu der Überzeugung gelangen konnte, es sei das Gewissen des Angeklagten, welches es ihm unmöglich gemacht habe, den zivilen Ersatzdienst abzuleisten.

Der Angeklagte hat dem Gericht die Motivation seiner Verweigerung nämlich ganz überwiegend durch einen Vortrag plausibel machen wollen, der in sich durchaus logisch und schlüssig, hauptsächlich aber politisch und rational dargelegt wurde. Das Gericht hatte am Ende der Erklärungen und Darlegungen des Angeklagten zunächst eher den Eindruck, es habe der wissenschaftlichen Seminararbeit eines Politologiestudenten zugehört.

Das Gericht ist aber, selbst auf die Gefahr hin, sich aus den juristischen Gleisen zu begeben und sich auf das Feld der Philosophie zu wagen, der Überzeugung, dass das Gewissen eine Kategorie nicht der Vernunft und des Verstandes, sondern des Herzens ist. Das Gewissen ist der Inbegriff der verantwortlichen Bindung eines individuellen Menschen, die ihre Wurzeln in seinem Gemüt, seiner Seele, haben und dadurch zur Kontrollinstanz seiner Wertvorstellungen und Handlungen, seien sie nun vernunftgesteuert oder emotional verursacht, erwachsen und damit zur zwingenden Handlungsmaxime, insbesondere bei auftretenden Konfliktsituationen, werden.

Leider hat der Angeklagte auch seinen Sozialisierungsprozess, d.h. das Wachsen und Reifen seines Gewissens zu seiner eigenen autonomen Entscheidungsfähigkeit, dem Gericht eher vorenthalten und sich auf Nachfragen nur sehr vage dazu geäußert. Für das Gericht war es von besonderer Wichtigkeit zu erfahren, auf welche Weise der Angeklagte zu seiner inneren Überzeugung, zu seinem Gewissen, gelangt ist, welche Bücher, Filme oder Ereignisse, vor allem aber welche Menschen ihn beeindruckt und zu der Persönlichkeit geformt haben, die er heute ist, Eltern, Lehrer, Verwandte oder Freunde. Das Gericht hatte bei der Befragung des Angeklagten den Eindruck, dass dieser dem Drüngen des Gerichts nach mehr Information vielleicht ganz gern nachgegeben hätte, dass dieser „Konflikt“ zwischen dem Angeklagten und dem Richter dem Angeklagten auch sehr unangenehm gewesen ist, dass vielleicht sogar ein Gefühl ihm anriet, sich dem Gericht mehr zu öffnen, aber andererseits wieder Angst und mangelndes Vertrauen ihm dies verboten haben. Das freie und offene Auftreten des Angeklagten, seine gelegentlich spürbare Unbefangenheit standen in einem seltsamen Widerspruch zu seiner gelegentlich mißtrauisch wirkenden Zurückhaltung. Es kann gut sein, dass der Angeklagte sich verpflichtet fühlte, bei der offenbar mit seinen Verteidigern abgestimmten Verteidigungsstrategie zu bleiben, sich nur keine Blöße zu geben, vielleicht weil jedes Wort zu viel dem Gericht die Möglichkeit bieten könnte, den Angeklagten in die Enge zu treiben. Es mag das durchaus nachvollziehbare Misstrauen des Angeklagten gegenüber der repressiven Macht des Strafrichters gewesen seien.

Bei der Beurteilung der Frage, ob die Verweigerung des Angeklagten auf seinen rationalen Erwägungen beruhten, oder ob es sich bei seiner Entscheidung, dem zivilen Ersatzdienst zu verweigern, um eine von seinem Gewissen getragene Entscheidung gehandelt hat, hat sich das Gericht auf seine persönliche Erfahrung gestützt. Danach vollzieht sich bei einem intellektuellen Menschen oder wenigstens bei einem Menschen, der sich aufgrund seiner Bildung und Ausbildung dafür hält, die Bildung des Gewissens anfänglich sehr häufig durch rationale Komponenten, nämlich durch Logik und Schlüssigkeit der Argumentation. Ob der Angeklagte wirklich eine eher rational geprägte Persönlichkeit ist, hat das Gericht an dem Nachmittag der Verhandlung vom 3. November 2000 nicht abschließend beurteilen können. In dem Auftreten des Angeklagten vor Gericht ist gelegentlich auch Warmherzigkeit und eine kaum verborgene Emotionalität hervorgetreten. Das Gericht hatte den Eindruck, der Angeklagte sei auf einen Kampf eingerichtet gewesen, auf einen intellektuellen Wettstreit um die Überzeugungskraft seiner Argumente, warum er den Kriegs- und auch den zivilen Ersatzdienst verweigern müsse. So hat der Angeklagte beispielsweise ganz eiskalt erklärt, er werde einen verwundeten Soldaten im Kriegsfall auf keinen Fall helfen, denn dies könne ja nur dazu führen, dass er die Kampfbereitschaft dieses Soldaten wieder herzustellen helfe, damit dieser erneut andere Menschen umbringen könne. Das Gericht hat ihm diese Erklärung nicht abgenommen. Auf Nachfragen hat der Angeklagte dann auch erklärt, dass dies natürlich eine Abstraktion gewesen sei. Selbstverständlich würde er sich von dem Leiden und den Schmerzen eines Verwundeten nicht abwenden. Der Punkt sei lediglich, dass er dafür arbeiten wolle, dass man niemals in eine solche Situation geraten müsse.

Die zusammenfassende Darstellung des Angeklagten, dass es zunächst rationale Erwägungen gewesen seien, die ihn zu seiner Verweigerungshaltung gebracht hätten, die sich bei ihm bei näherer Beschäftigung mit diesen Problemkreisen zu einer inneren Überzeugung entwickelt hatten, erschien dem Gericht jedenfalls plausibel und persönlichkeitsimmanent für den Angeklagten. Sein Herz sagt dem Angeklagten, er müsse auch den zivilen Ersatzdienst verweigern, um sich selbst und seinen inneren Überzeugungen von Gut und Böse nicht untreu zu werden.

Damit war das Motiv der Verweigerung des Angeklagten, die Triebfeder seines Verhaltens, eine Gewissensentscheidung.

Diese Gewissensentscheidung des Angeklagten führt aber nicht per se zu einer persönlichen Unzumutbarkeit normgemäßen Handelns, hier also dem Antritt des zivilen Ersatzdienstes, und damit zu einem übergesetzlichen Schuldausschließungsgrund.

Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes (E 23, Seite 133) ist vielmehr ein geradezu „unüberwindlicher Zwang“ im Sinne einer „übermächtigen Motivation“ erforderlich.

Das Gericht sieht dem Wertanruf des Gewissens jedenfalls dann als „übermächtige Motivation“ an, wenn er dazu führt, dass der Betroffene, hier also der Angeklagte, wesentliche persönliche Nachteile in Kauf nimmt, die ihm im Vergleich zu der bestehenden Alternative, also pflichtgemäß den zivilen Ersatzdienst abzuleisten, als geringere Belastung erscheinen, weil sie nämlich mit seinem Gewissen, seinen innersten Vorstellungen von Gut und Böse, übereinstimmen. Für den Preis eines reinen Gewissens hat der Angeklagte ein Strafverfahren auf sich genommen mit der hohen Wahrscheinlichkeit einer Verurteilung zu Strafe, mit dem psychischen Belastungen möglicherweise mehrerer Strafverhandlungen und in quälender Ungewissheit und Angst über den Ausgang des Verfahrens und dem drohenden Makel einer strafrechtlichen Verurteilung. Wenn man also nach der bindenden Vorgabe des Bundesverfassungsgerichts bei der Gewissensentscheidung qualitative Abstufungen vornehmen muss – danach soll es ja „einfache Gewissensentscheidungen“ geben und solche Gewissensentscheidungen, die übermächtig sind – dann kann dem Angeklagten, der durch seine konsequente Verweigerungshaltung ein hohes Maß an Zivilcourage offenbart hat, eine solche qualifizierte Gewissensentscheidung nicht abgesprochen werden.

Allerdings führt nicht allein schon der übermächtige Motivationsdruck einer solchen qualifizierten, nämlich übermächtigen, Gewissensentscheidung des Angeklagten zu einem übergesetzlichen Schuldausschließungsgrund. Das würde nämlich zu der Annahme eines allgemeinen Schuldausschließungsgrundes der Unzumutbarkeit führen, der nach herrschender Meinung aber abgelehnt wird (vgl. Tröndle/Fischer, Strafrechtskommenar, Anmerkung 30 vor §13 mit weiteren Nachweisen). Neben dem Schuldmilderungsgrund der psychischen Zwangssituation ist weiterhin auch ein objektiver Unrechtsminderungsgrund Voraussetzung für einen Schuldausschluß (vgl. Rudolphi in Festschrift für Welzer, 1974, Seite 605 ff).

Die Qualität des von dem Täter verübten Unrechts, dies ist ein wesentlicher Bestandteil der persönlichen Schuld des Täters, wird durch die Bedeutung des durch die verletzte Strafrechtsnorm geschützten Rechtsgutes bestimmt. Das durch die Vorschrift des § 53 ZDG geschützte Rechtsgut ist einmal die Wehrgerechtigkeit. Das bedeutet, dass dem anerkannten Kriegsdienstverweigerer durch die Ableistung des Ersatzdienstes ein gleichwertiges Opfer auferlegt werden soll, welches der Belastung des wehrpflichtigen Soldaten durch den Militärdienst entspricht. Weiterhin wird man auch das Interesse des Staates an der Erhaltung der Wehrkraft seines Militärs als das durch die Vorschrift des § 53 ZDG geschützte Rechtsgut ansehen können. Denn ohne die Verpflichtung zum zivilen Ersatzdienst würden wohl die meisten jungen Männer dem Staat als Wehrpflichtige verloren gehen, weil die Verweigerung des Wehrdienstes aus Gewissensgründen keine weitere Verpflichtung nach sich zöge.

Weder die Wehrkraft der Bundeswehr noch die Wehrgerechtigkeit kann durch Ausfall eines Zivildienstverpflichteten, der sich weigert, seinen zivilen Ersatzdienst abzuleisten, ernsthaft beeinträchtigt werden. Das ergibt sich schon aus dem groben Mißverhältnis der Anzahl der Totalverweigerer gegenüber wehrwilligen oder ersatzdienstwilligen jungen Männern. Darüberhinaus ist es gerichtsbekannt, dass die Bundesrepublik nicht alle Wehrpflichtigen jungen Männer zur Ableistung der Wehrpflicht heranzieht und auch nicht alle anerkannten Kriegsdienstverweigerer zur Ableistung des zivilen Ersatzdienstes, weil es bei den Soldaten nach Beendigung des Kalten Krieges an einer umfassenden Verteidigungsaufgabe und – das gilt für den Wehrdienst wie auch für den zivilen Ersatzdienst – auch an erforderlichen Finanzmitteln fehlt. Gerade die jüngste politische Diskussion über die Abschaffung der Wehrpflicht zeigt, dass die Wehrgerechtigkeit eine bloße Fiktion ist, die in der Realität nicht einmal ansatzweise erreicht wird.

Der Unrechtsgehalt der Tatbestandserfüllung des Angeklagten ist damit als äußerst geringfügig einzustufen. Darüberhinaus ähnelt die Vorschrift des § 53 ZDG einem Unterlassungsdelikt, da im Grunde das Nichtbefolgen der zivilen Dienstpflicht unter Strafe gestellt wird. Unterlassungsdelikte weisen generell einen geringeren Unrechtsgehalt auf als Begehungsdelikte.

Damit liegen bei diesem Angeklagten alle Voraussetzungen für die Feststellung eines übergesetzlichen Schuldausschließungsgrundes, nämlich der Unzumutbarkeit seiner qualifizierten Gewissensentscheidung zuwider zu handeln, vor.

Das folgt auch aus den Wertmaßstäben unseres Grundgesetzes, die unsere freiheitliche Gesellschaftsordnung ausmachen. Das Bundesverfassungsgericht hat gerade auf Grundlage dieser Werteordnung das verfassungsrechtliche Wohlwollensgebot gegenüber Gewissenstätern formuliert, das auf dem Schutz des Gewissens nach Artikel 4 des Grundgesetzes beruht (E 23, 127, 134 f).

Das Gericht ist überdies der Auffassung, dass über dieses Wohlwollensgebot hinaus, das letztlich einer bloßen Schuldminderung gleich kommt, nicht aber den Schuldausschluß bedeutet, der zentrale Grundsatz unserer Verfassung beachtet werden muß, der sich aus Artikel 1 Abs. 1 unserers Grundgesetzes ergibt:

„Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist die Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“

Strafgerichte sind die herausragende Repräsentanten staatlicher Gewalt, weil sie durch ihre repressiven hoheitlichen Machtbefugnisse am einschneidensten in den Lebensbereich der Bürgerinnen und Bürger eingreifen können. Nach Artikel 1 Abs. 1 des Grundgesetzes ist es also vornehmlich Aufgabe gerade der Strafgerichte, die Würde des Angeklagten zu respektieren und zu schützen. Eine Verurteilung zu Strafe bei diesem Angeklagen, der sich auf Grundlage seines persönlichen Wissens zur Verweigerung auch des zivilen Ersatzdienstes entschlossen hat, würde sich als Missachtung seiner individuellen Würde und nicht als deren Schutz, sondern gerade als Angriff auf diese Würde darstellen.

Das Gericht begreift dieses Verfassungsvorschrift nicht als bloßen Programmsatz ohne tatsächliche Konsequenzen, sondern als bindende Maxime seines richterlichen Handelns. Diese Handlungsanweisung unseres Grundgesetzes an die Organe staatlicher Gewalt macht gerade die Freiheit aus, die unsere Demokratie so verteidigungswert macht. Nach Auffassung des Gerichts ist es gerade wesentlich für unsere demokratische Ordnung, dass unsere Gesellschaft es sich leisten kann, einen Gewissenstäter, der aus innerer Überzeugung auch die Ableistung des zivilen Ersatzdienstes wegen der engen Verknüpfung zum Wehrdienst ablehnt, straffrei ausgehen zu lassen. Gerade durch diese Souveränität im Umgang mit Bürgern, die sich ihrem pazifistischen Gewissen bindend verpflichtet fühlen, stärkt der Staat den demokratischen und freiheitlichen Gedanken in unserer Gesellschaft.

Der Angeklagte hat ohne Schuld gehandelt. Er war daher mit der Kostenfol­ge aus §467 StPO von dem Anklagvorwurf freizusprechen.

Panzer